Darin schrieben zu unter anderem:
«Liebe und Sexualität gehören zur Natur des Menschen. Aus Liebe entscheiden Mann und Frau, ihren Lebensweg fortan gemeinsam zu gehen. Aus Liebe beschliessen ebenso zwei Frauen oder zwei Männer, zusammenzuleben und sich in guten wie in schlechten Zeiten beizustehen. Wir beide, Nicole & Maria sind seit über drei Jahren ein Paar. In dieser Zeit haben wir sehr vieles miteinander erlebt und ausgestanden (Scheidung, Operationen, Arbeitslosigkeit, Firmengründung, Auftritte in Medien und eine lebensbedrohliche Krankheit). Uns bedeutet die persönliche Wertschätzung, die wir bei vielen FreundInnen und Bekannten erleben durften, viel. Jetzt geht es aber um etwas anderes, das ebenfalls ganz wichtig ist – die rechtliche Anerkennung.»
Maria und Nicole haben sich Anfang 2002 in Winterthur kennengelernt.. Beide hatten ihrer früheren Heimat den Rücken gekehrt, um sich freier zu fühlen und alten Zwängen zu entrinnen. Zum ersten Mal sahen sie sich dann im «Wisch» (heute «Wilsch»), dem Schwulen- und Lesbentreffpunkt an der Badgasse, Bekanntschaft machten sie dann aber im Internet. Nicole suchte «Leute mit Lust, die Geschlechtergrenze zu sprengen». Mit ihnen wollte sie sich den eben angelaufenen Kultfilm «Venus Boyz» anschauen gehen. Der Film handelt von einer Drag-King-Nacht in einem New Yorker Club, die Ausgangspunkt ist für eine Odyssee durch Welten, in welchen Frauen zu Männern werden – die einen für eine Nacht, die andern für ein ganzes Leben.
Nicole wuchs in einem wohlbehüteten Elternhaus auf. Während ihres Psychologiestudiums in Bern wohnte sie dann in einer Wohngemeinschaft mit einem schwulen Mann zusammen, Dieser Mann verwandelte sich nachts in eine glamouröse Drag Queen, die Sängerinnen von Katja Epstein bis Madonna imitierte. Das Thema begann sie zu interessieren, sie verkehrte in der Schwulenszene, setzte sich – damals noch Hetera – mit den Rechten von Homosexuellen auseinander und engagierte sich im Vorstand des «fels», dem Verein der Freundinnen, Freunde und Eltern von Lesben und Schwulen. In dieser Zeit begann sie sich in Frauen zu verlieben. Die Familie hatte mit ihrem Lesben-Coming-Out kein Problem und akzeptierte die geschlechtliche Orientierung ihrer Tochter von Anfang an. Dennoch war es Nicole wichtig, an einen Ort zu ziehen, wo sie niemand kennt und wo sie unbeschwerter «neue Dinge ausprobieren» konnte. Sie und Maria sind sich einig: «Winterthur ist eine sehr offene Stadt. Seit drei Jahren spazieren wir hier händchenhaltend herum, ohne dass sich jemand darum schert.» In anderen Städten haben sie auch schon anderes erlebt.
Nicole und Maria leben in einem Vierfamilienhaus in zwei direkt übereinander gelegenen Wohnungen. Nicole hat die Dachwohnung bezogen, die mit ihrem kreativen Durcheinander ein bisschen nach Studentinnenbude aussieht, Marias Wohnung ist stilvoller, repräsentativer und hat mehr Platz. So kommt es, dass meist bei Maria gekocht wird. Maria liebt es, für Nicole zu kochen und Nicole lässt sich gerne von Maria bekochen. Nicole: «Dein Couscous ist wunderbar».Maria: Und Du machst die beste Lasagne ».
Maria wurde in einer Gemeinde im Bernbiet als Walter geboren. Nach drei Mädchen war Walter der heiss ersehnte «Thronfolger» für den elterlichen Gastrobetrieb. Sein Grossvater, der Gemeindepräsident des Orts, feierte die Ankunft des Enkels unten in der Gaststätte mit dem halben Dorf. Walter entwickelte sich zu dem, was das die Familie von ihm erwartete: Er wurde ein erfolgreicher Gastronom mit drei Betrieben, heiratete und hatte eine Tochter. Er war im Vorstand der FDPund machte Karriere im Gewerbeverband bis hin zum Amtsgewerbepräsident. Er war im Burger Rat, einem Gremium alt eingesessener und einflussreicher Bürger seines Wohnorts, und war dort für 40 Hektaren Wald zuständig war. Nicole kandidierte zu jener Zeit in Bern für das Grüne Bündnis. Der Mann, der heute ihre Partnerin ist, entsprach perfekt ihrem Feindbild von einem «bürgerlichen Obermacho»,der Cadillac fuhr, Waffen sammelte und mit der Motorsäge Bäume fällte.
Es war eine unvermittelt auftretende Krise, die Walter bewog, sein bisheriges Leben grundlegend zu hinterfragen. «Es war einfach so, dass ich das ganze Rollenspiel als Mann nicht mehr wollte. Meine Männerrolle, das männliche Getue und die männliche Sexualität begannen mich zu nerven. Alles stimmte auf einmal nicht mehr. Die Tochter heiratete, der Schwiegersohn stieg ins Geschäft ein, ich war unterdessen 30 Jahre verheiratet und ich fragte mich: Wie geht es in meinem Leben weiter?»
Der Schnitt, den Walter schliesslich vollzog, war radikal. Er trennte sich von allem und zügelte nach Winterthur. Hier fand er eine Anstellung als Küchenchef in einem Restaurant. Und dann startete er sein Coming-Out als Transsexueller: Er informierte seine Wirtsleute darüber, dass er nach seinen Ferien im Oktober 2001 als Frau zurückkehren werde und auch seinen Freundeskreis liess er wissen, dass er seinen 52. Geburtstag als Maria feiern werde. Das Outing wurde begleitet von einem grossen Artikel in der «Berner Zeitung». Schlagzeile: «Walter Jenzer, der frühere Bützberger «Kreuz»-Wirt beginnt mit 52 Jahren ein neues Leben. Er hat sich als Transsexueller geoutet und heisst künftig Maria.» Maria machte im Artikel klar, dass eine allfällige künftige Partnerin wieder eine Frau sein werde, denn «ich fühle mich auch als Frau zu Frauen hingezogen.»
Auch wenn die Identitätskrise als vordergründige Wahrnehmung plötzlich auftrat, ist es Maria klar, dass sie latent immer zwischen den Geschlechtern oszillierte, auch wenn sie sich im Alltag, den Erwartungen ihrer Umgebung entsprechend, betont männlich verhielt. Die Störung der Geschlechtsidentität äusserte sich bei Walter etwa in der Faszination für die Travestie, wo der Wechsel zwischen den Geschlechtern als reizvolles Spiel inszeniert wird. So ist es denn auch kein Zufall, dass die Faszination für den Kultfilm «Venus Boyz», der sich jenseits der Geschlechtergrenzen bewegt, Nicole und Maria zusammenführte. Diese Spannung, das geben sie offen zu, reizte sie im Film und reizt sie im Leben.
Der «Verrat» an ihrem Geschlecht, das sie nicht mehr als ihres akzeptieren konnte, bezahlte Maria mit dem Verlust alter Freunde, die mit der neuen Situation überfordert waren. Maria nimmt es ihnen nicht übel: «Es gibt Leute, für die ist der Prozess, den man selbst macht, abstrakt und nicht nachvollziehbar. Von ihnen muss man sich verabschieden, in einer Phase, in der man sie eigentlich braucht und selbst sehr verletzbar ist. Aber es hat keinen Sinn, sie mit deiner Präsenz zu konfrontieren, wenn sie es nicht begreifen können.» Gnadenlos fallen gelassen wurde Maria auch von ihren drei Schwestern: Der Vorzeigebruder war jetzt der Veräter, der alles kaputt gemacht hatte, die Schande der Familie. Zu ihrem «Papi» halten aber bis heute die Tochter, der Schwiegersohn und die Enkelin.
Einen Tiefschlag erlebte Maria auch an ihrem Arbeitsplatz in Winterthur. Obwohl sie den Wirt vorgewarnt hatte, kündete dieser der Küchenchefin, die nach den Ferien elegant gekleidet mit Ohrclips, dezent geschminkt und gefärbtem Haar zur Arbeit antrat. Die Situation überforderte ihn. Unterdessen ist Maria Projektleiterin für Gastronomie im Erwerbslosenprojekt «al gusto» in Uster und absolviert am Institut für Angewandte Psychologie berufsbegleitend einen Nachdiplomkurs für Supervision und Coaching. Auch an ihrem neuen Arbeitsort war ihre Identität ein Thema, das aber kurz abgehandelt wurde. Anfängliche Befürchtungen, diese könnte für Menschen aus anderen Kulturkreisen ein Problem darstellen, erwiesen sich als unbegründet.
Die Liebesbeziehung mit Maria stellte auch die Familie von Nicole auf eine neue Probe. Nicole fand, sie könne diese jetzt nicht auch noch mit der Tatsache konfrontieren, dass sie eine transsexuelle Freundin habe. So meldete sie sich zum 60. Geburtstagsfest ihrer Mutter einfachheit zusammen mit ihrer «Freundin» an. Der Bruder argwöhnte sofort: «Das ist ein Mann.» Seine Mutter aber wies ihn zurecht: «Wenn Nicole sagt, es sei eine Frau, dann ist es eine Frau!» Damit war die Diskussion fürs erste erledigt. Ein Missverständnis führte dann aber am anderen Morgen dazu, dass die Sache doch noch aufflog. Nicoles Mutter schwärmte vom wunderbaren Fruchtsalat, den Nicole und Maria zum Dessert mitgebracht hatte, worauf Nicole der in ein anderes Gespräch vertieften Maria zurief: «Verrat doch dein Geheimnis.» Maria wunderte sich zwar ein bisschen, begann dann aber in ihrer gewohnten Offenheit, ihre Geschichte auszubreiten. Ein spitzer Schrei von Nicole machte ihr klar, dass da wohl irgendwas schief gelaufen war. Die Spannung entlud sich in fröhlichem Gelächter. Vollends gerettet war die Situation als Nicoles Mutter, die schon beim Outing ihrer Tochter ihre Souveränität unter Beweis gestellt hatte, ungerührt meinte: «Ja und wie ist das jetzt mit dem Geheimnis des Fruchtsalats...»
Das ist es, was Nicole und Maria sich wünschen: Eine Welt, in der nicht mehr unterschieden wird zwischen Heteros, Lesben, Schwulen, Schwarzen, Gelben und Weissen; eine bunt gemischte, multikulturelle Gesellschaft, in der Meinungen, Überzeugungen und Werthaltungen zählen und nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe.
Das Jahr, in dem sich Nicole und Maria kennen lernten und verliebten, brachte ihnen nicht nur das grosse Glück, sondern gleich eine ganze Reihe von Herausforderungen und Schicksalsschlägen. Nicole verlor ihre Arbeitsstelle, weil das Forschungsinstitut, bei dem sie arbeitete, als Folge der Terroranschläge vom 11. September in den USA geschlossen wurde. Es war Teil eines grossen Unternehmens gewesen, das vom Anschlag finanziell schwer betroffen worden war. Maria hatte in diesem Jahr ihr Coming-Out als Transssexuelle und stand vor der geschlechtsangleichenden Operation, die sie vom „Mann“ zur „Frau“ machen sollte. Und als wenn das alles noch nicht genügte, wurde bei Nicole eine lebensbedrohende Krankheit diagnostiziert, die ebenfalls einen längeren Spitalaufenthalt nötig machten.
Nicole und Maria wissen wie kostbar und fragil das Leben und das Glück sind. Ihr Umgang miteinander ist sehr liebevoll und geprägt von Ritualen, mit denen sie sich immer wieder ihrer Liebe versichern. Nach der Arbeit sitzen sie ganz bewusst zusammen, trinken Tee miteinander, schauen sich an und tauschen sich aus. Zu den Ritualen gehört auch das «borze»; dieser berndeutsche Ausdruck steht für kuscheln, sich festhalten, sich spüren. Und der 23. jeden Monats wird als besonderer Tag gefeiert - mit Champagner und Kerzenlicht. Am 23. Februar 2002 haben sie sich kennengelernt, am 23. März hat’s in der Frauendisco gefunkt, am 23. Mai hat Nicole Geburtstag und am 23. Juli 2005 haben sie sich verlobt. Dass dann auch noch ausgerechnet 23 230 Winterthurerinnen und Winterthur Ja sagten zum neuen Partnerschaftsgesetz, war für sie klar mehr als ein blosser Zufall.
Ein wichtiger Tag ist für Maria und Nicole auch der 8. Oktober. Er ist der neue Geburtstag von Maria. Damals wurde sie zur Frau. «Ich habe heute eine Lebensqualität, wie ich sie mir nie vorgestellt hätte. Das erleben zu dürfen betrachte ich als absolutes Geschenk.» Diskriminierungen hat sie eigentlich seither nie mehr erlebt. Da war einzig dieses Erlebnis bei einem Treffen mit Nicoles Familie, als zwei Töff-Begeisterte sich über Motorräder unterhielten und Maria mit ihren Diskussionsbeiträgen einfach nicht Ernst genommen wurde. Dabei war sie in ihrem früheren Leben ein ebenso leidenschaftlicher wie guter Töfffahrer gewesen. Dieses Erlebnis wertete sie aber gleichzeitig auch als Kompliment, war es doch ein Beweis dafür, dass die beiden sie offensichtlich als Frau wahrnahmen, mit der man nicht über Motorräder diskutieren kann.
Im
Frühsommer ist
Maria der CVP Winterthur beigetreten. Sie fühlt sich dort wohl und
willkommen.
Ihr Entscheid hat viel mit der klaren Haltung der CVP-Frauen im
Zusammenhang
mit dem Partnerschaftsgesetz zu tun. Sie selbst hatte sich
ja auch unvermittelt mit
einer Situation konfrontiert gesehen, über die sie sich in der
Vergangenheit wenig
Gedanken gemacht hatte: «50 Jahre lang war ich ein Heteromann und
plötzlich
stand ich als lesbische Frau da und nahm wahr, dass ich jetzt zu einer
Randgruppe gehörte.» Da taten ihr die klaren Worte der CVP-Frau Ruth
Humbel
wohl, die feststellte: «Wenn sich zwei
Menschen – ob heterosexuell oder homosexuell – lieben, wenn sie
füreinander
sorgen und einstehen wollen, sich gegenseitig in Rechten und Pflichten
stehen,
haben sie Anrecht darauf, für Ihre Partnerschaft den gesetzlichen
Schutz zu
bekommen. Homosexuellen dieses Recht zu verweigern ist mit moralischen
Argumenten nicht zu rechtfertigen.» Nicole hat sich in der
Zwischenzeit
selbstständig gemacht und führt das Einfrau-Unternehmen «Empowerment»,
das
Menschen im weitesten Sinn Hilfe
anbietet, von der psychologischen Beratung bis zur praktischen Hilfe in
Sachen
Computer oder Kommunikation. Sie verfasste eine Informationsbroschüre,
um Eltern zu helfen, ihre lesbischen Töchter und schwulen Söhne besser
verstehen und akzeptieren zu können. Denn nicht alle Eltern reagieren
so
gelassen auf ein Coming-out wie Nicoles Mutter!